29.09.2020
Liebe Freunde,
wissenschaftliche und andere Signifikanzen
Natürlich ist der Mensch keine Ratte, oder, wie wir sehen werden, zumindest in Teilen doch. Sofern Sie/Ihr nach dieser Behauptung weiterlesen woll(t)en, bitte ich vor allem naturwissenschaftlich orientierte Leser, gnädig zu sein, weil meine Erinnerung in diesem autobiographischen Ansatz möglicherweise schon verblasst ist.
Menschlich-rättisch gesehen lässt Raymond Chandler seinen Privatdetektiv Marlowe einmal sagen, dass Freunde diejenigen Personen sind, bei denen die Enttäuschung noch bevorsteht. Von Hemingway stammt aus Wem die Stunde schlägt die Bemerkung Ein intelligenter Mann ist manchmal gezwungen, sich zu betrinken, um Zeit mit Narren zu verbringen. Wenn es wenigstens nur Narren wären, mit denen man sich auseinandersetzen muss. Denn es gibt ja auch die Schienbeintreter.
Für diese habe mir ungefähr im Jahr 2004 eine Strolchskala zurechtgelegt. Von den damals, zeitlich zu vergebenden Plätzen 1 und 2 wurde einer kürzlich durch Ableben frei, so dass der seit 2005 besetzte Platz drei eigentlich aufrücken könnte, diese Ehre aber nicht verdient hat, auch wenn er ein großer Strolch ist. Im vorigen und vorhergehenden Jahr sind noch zwei auf 4 und 5 dazugekommen, im Ranking allerdings abfallend. An sich eine gute Bilanz für siebzig Lebensjahre und ich finde, dass diese Methode, wenn auch nicht durch einen p-Wert (s.u.) ethisch-psychologisch untermauert, den signifikanten Vorteil hat, Individuen dort unterzubringen und der weiteren Nichtbeachtung zu überlassen. Sie beruht in großzügiger Interpretation auf Kolosser 3,13: Ertragt einander großzügig, weiterhin, selbst wenn jemand Grund hat, sich über einen anderen zu beklagen.
Forschende Pharmaunternehmen sehen in der Ratte, wenn sie deren Körperoberfläche und -volumen hinzuziehen, die Möglichkeit, eine first-in-human Dosierung anhand der humanen Äquivalenzdosis zu ermitteln. Für den jungen Forscher ist die Ratte, zumeist Wistar-Stamm, eine Gelegenheit, eine Idee mittels zweier Rattenpopulationen in eine Veröffentlichung umzusetzen, was so funktioniert, dass man annimmt, eine Operationsmethode sei besser als eine andere. Der Vorteil dieses Versuchstiers liegt in der inter-anatomischen Identität der beiden Spezies Rattus Rattus und Homo Sapiens: in der Gleichheit der Organe zwischen Schilddrüse und Anus. Als höher entwickeltes Lebewesen verfügen wir über eine Gallenblase und einen Appendix, die die Ratte nicht hat, weswegen sie auch an keiner Entzündung dieser beiden Organe leiden kann - die Glückliche.
Ist ein solcher Versuch dann abgeschlossen, den die Ratte zumeist mit dem Leben bezahlt hat - die Unglückliche -, gilt es ein Ergebnis zu ermitteln. Dafür gibt es den die Signifikanz ermittelnden Student-T-Test. Einfach gesagt, erläutert der Test mittels p-Wert den Unterschied zweier Mittelwerte, mit dem eine Hypothese entweder bestätigt oder verworfen wird. In etwa hat der Philosoph Karl Popper das gemeint, wenn er davon spricht, eine Hypothese zu falsifizieren: ist der Ansatz falsch, wird er verworfen.
Der Test heißt übrigens nicht Student-Test, weil der Erfinder Student hieß oder ein solcher war. Der Test wurde Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts von William Sealy Gossett erfunden, der als Chemiker in der Guinness Brauerei arbeitete, die Publikationen unter eigenem Namen verboten hatte, und der seinen Test dazu benutzte, um die Qualität des gebrauten Stouts zu überprüfen.
Manchmal gab es selbst in außeruniversitärem Lebensabschnitten noch Möglichkeiten zum Student-T-Test oder zur Varianzanalyse, wenn nämlich die Fachgesellschaft versuchte, unter den möglichen Leistenhernienoperationen die richtige herauszufinden. Shouldice, Lichtenstein, TEP oder TAPP - dem Patienten wird es gleich sein, Hauptsache, es ist tipp-topp, schmerzfrei und hält eine Weile.
Krankenhausgeschäftsführer haben die Signifikanz dieser Entscheidung längst erkannt: zwei der Verfahren lassen sich nur ambulant durchführen, sind also abrechnungstechnisch weniger einträglich. Damit wird klar, wohin das regelmäßige Jour-Fix den angeblich in seiner Therapiewahl unabhängigen Arzt hinführen soll.
Dabei ist Chirurgie, abgesehen von hierarchischen Führungsstrukturen, demokratisch. Die Archäologen unter uns wissen, dass vor mehr 1000 Jahren der Status eines verblichenen Ägypters, Azteken oder Chinesen an den Grabbeilagen gemessen wurde. Die zukünftigen Archäologen unter uns werden in 1000 Jahren feststellen, dass die heutigen Grabbeilagen - Leistenherniennetze, Gefäßprothesen, selbst Titan-Hüftgelenke nicht auf die soziale Stellung hinweisen werden, was doch immerhin ein Fortschritt sein sollte.
An dieser Stelle ein Wechsel zu einer anderen, einer unwissenschaftlichen Bedeutung des Begriffes Signifikanz. Als Universitätsangehöriger habe ich einmal einen Vortrag in einer skandinavischen Hauptstadt auf einem World Congress of Surgery gehalten. Da ich den katholischen Bischof des Landes kannte, durfte ich, obwohl Protestant, in seinem Gästehaus übernachten. In einem signifikanten Bett, deswegen signifikant, weil der direkte vorherige Nutzer Papst Johannes Paul II. war. Retrospektiv ist mir diese Ehre wahrscheinlich nur deshalb zuteil geworden, weil die anderen Gäste die übrigen drei Bischöfe Skandinaviens waren und meine Anwesenheit den gastgebenden Bischof der Entscheidung enthob, wer von seinen Brüdern nun der Nachfolgeschläfer werden sollte.
Auf dem Weg von der Universität in die skandinavische Hauptstadt mussten mehrere Grenzen und diese per Fähre passiert werden. Angesichts des alkoholischen Notstandes im Norden Europas im Allgemeinen und möglicherweise der der nicht durch Kirchensteuer finanzierten Würdenträger im Besonderen hatte ich mich in den Duty-Free Shops an Bord mit mehreren Six-Packs deutschen Bieres in grünen Flaschen versorgt und diese im Gästehaus im Kühlschrank untergebracht. Nach einem anstrengendem Kongresstag und rauer Nachvortragskehle war die Sehnsucht nach einem linderndem Bier groß. Die vier Würdenträger hatten die These, dass Geben seeliger sei denn Nehmen (Apostelgeschichte 20,35) im Sinne von Karl Popper falsifiziert, sich über die Six-Packs hergemacht und dem durstigen Wissenschaftler gerade mal eine Flasche (in Worten 0.33 L) überlassen. Ich aber dachte großzügig gemäß Sprüche 11:25: wer reichlich tränkt, der wird getränkt werden.
Später war ich einmal im Mekka des historischen Motorsports, in Goodwood und habe dort der Versteigerung historischer Automobile beigewohnt. Auf dem Weg zu meinem Sitzplatz passierte ich ein Display, das einen Kotflügel, einen Motor, ein Getriebe und ein oder zwei weitere Teile angeblich eines Jaguar in Battleship-Gray zeigte - a significant car, formerly belonging to King Michael I of Romania. In meinem späteren Leben habe ich gelernt, dass sich aus solchen Teilen eigentlich kein signifikantes Fahrzeug herstellen lässt, weil die Fahrgestellnummer fehlt, wozu man ein Chassis, zumindest ein mikroskopisches kleines Teil desselben braucht, das die Nummer trägt. Dennoch gibt es solche Autos. Mit zweien davon im Wert von gemeinsamen 3 bis 4 Millionen € beschäftigt sich gerade das Oberlandesgericht Hamm.
Überhaupt liest man oft von signifikanten Autos, die sich nur dadurch ausgezeichnet haben, dass Fangio, Moss oder auch weniger bekannte mal darin gesessen haben, was nicht draußen dran steht, also am Tegernsee wenig Eindruck schinden würde. Gleiches gilt für Möbel oder Häuser. Für Krankenhausgeschäftsführer wäre das eine großartige Einnahmequelle, wenn sie Operationssäle mit dem Merkmal, hier haben Billroth, Zenker, Starzl operiert, vermieten würden. Ich habe in Wien in einem operiert, in dem Theodor Billroth seine erste Magenresektion durchgeführt hat. Billroth ließ die Narkose (Schimmelbuschmaske und Äther vermutlich, wie wir bei unseren Wistar) seiner Zeit durch einen seiner Assistenten machen, fix, effizient, im Gegensatz zum heutigen Anästhesisten, dessen Tempo oft einlädt, die Sinfonie Nr. 1 c-Moll op. 68 von Brahms zu hören, der ein Freund von Billroth war und seine Sinfonie etwa zur selben Zeit wie die Billroth´sche bahnbrechende Operation entstehen ließ.
Zum Schluss noch ein letzter Aspekt zum Thema Signifikanz und Automobil. Als die Großmutter meiner Kinder vor 14 Jahren im Alter von 84 beschloss, dass es genug sei mit dem Führerschein, überließ sie ihr gerade angeschafftes Auto ihren Enkeln (und die dazu gehörigen Kosten mir), eine für ein Studentenbudget signifikante Entscheidung. Dieser kleine Skoda, der in Goodwood und Pebble Beach nicht einmal die Juroren des Concours d´Elegance transportieren dürfte, wurde ein signifikantes Auto, transportiert es doch über mittlerweile über mehr als 200000 Kilometer alte und neue Beziehungen quer durch Europa, vom Polarkreis bis Bordeaux. Hier verbindet sich Signifikanz mit Lebensfreude, was kann es Besseres geben.
Signifikanz ist laut Duden ein Substantiv und feminin. Allein die vielen Konsonanten lassen den Begriff auf der Zunge knistern, wie ein sizilianisches Cassata.
Für die Wissenschaftler unter Ihnen/Euch erfolgreiche T-Tests, für die Vintage Car Specialists, lasst Euch nicht an der Nase rumführen, für die Skoda-Fahrer einen schönen Sommer, wo auch immer.
Die Femina (neulateinisch: moglie) an meiner Seite hat mir vorgeschlagen, jetzt erst mal eine Pause zu machen, um Ihnen/Euch auch eine solche zu gönnen. Zudem enden unsere Ferien.
Ausserdem ist in meinem Moleskine-Notizbuch die letzte Seite erreicht. Das Neue wartet darauf, eingerichtet zu werden. Es heisst Leuchtturm 1917, stammt vom Alben Verlag in Geesthacht/SH: Design in Germany, Made in Taiwan.
Der nächste Aufsatz, wenn er denn kommt, ist Design & Made in Oberlaindern/BY.
Arrivederci e cordiali saluti!
Peter (Schroeder)
Peter Schroeder - 11:56 @ Allgemein, Gesellschaft, Gesundheit | Kommentar hinzufügen