12.05.2020
Liebe Freunde!
Ich bin Waldbauer.
An sich ist das keine bemerkenswerte Feststellung, schon gar nicht in Corona-Zeiten, auch wenn der Wald zu klandestinen Familientreffen einlud, wie wir bei unseren Spaziergängen beobachten konnten. Ich bin Waldbesitzer im Bergischen Land, Nähe Gummersbach und hier kommt erstmals meine Grossmutter ins Spiel, von der der Wald stammt. Karl May, alias Old Shatterhand, hätte als Landvermesser im Wilden Westen der USA oder NRW der Parzelle keine Aufmerksamkeit geschenkt, selbst wenn sie eine wasserführende Oase im Llano Estacado gewesen wäre. 1 Hektar, 4 Morgen, 100 Ar, 10.000 m²: je kleinkarierter die Fläche beschrieben wird, desto größer die Bedeutung, denn wer weiß auf einer Dinner-Party in Vor-Corona-Zeiten schon 10.000 einzuschätzen, wenn die m² nach dem ersten Montgommery weggenuschelt sind. Immerhin hat mir die schiere Fläche eine Steuernummer als Waldbauer der zuständigen Finanzbehörde beschert.
Steuernummern habe ich einige: als Individuum, als Ehemann, als Waldbauer, selbst als Schriftsteller. Letztere hatte ich ca. fünf Jahre, etwa in der Zeit - wir haben dasselbe Finanzamt - als dieses dazu beitrug, einen Bayerischen Fußballrepräsentanten ins Gefängnis zu bringen und nachfolgend nichts Besseres zu tun wusste, als mich zum Schriftsteller zu erklären.
Eine Corona-Immunitätsnummer habe ich noch nicht und ich/wir werde(n) sie auch nicht erhalten. Unser Gesundheits-Jens, der ja mal Bundeskanzler werden will, fand die Idee gut, obwohl er weder einen entsprechenden Test noch sonst irgendetwas vorweisen konnte, was seine Gesetzesvorlage hätte relevant erscheinen lassen. Dann zog er die Idee als „Debatten“-Beitrag zurück und hier kommt nachher wieder meine Großmutter ins Spiel.
Wir durften, so wir unseren gewählten Oberen folgten, unser Haus nicht verlassen, es sei denn aus, relevanten Gründen, worunter nicht der Ausflug an Tegernsee, Spitzingsee oder Schliersee gehört, obwohl ich den mal durchschwommen habe, an einer schmalen Stelle. Aber Radfahren, Joggen oder der Waldspaziergang zählten dazu (Stand 1.5.2020). In diesen Tagen strahlt der Wald in Lindgrün, der SCHÖNER WOHNEN-Farbe 01.035.05. Im Wald unserer Nachbarschaft gibt es nur einige wenige Linden. Wir finden sie eher auf freier Fläche, an einer Wegkreuzung, mit einem Marterl, einer Bank, die zum Verweilen unter göttlicher Fügung einlädt.
Im Wald dagegen - der Borkenkäfer, der für meine Parzelle vergleichsweise den Corona-Feind schlechthin darstellt, ist im Oberbayerischen selten - sehen wir neben den Fichten, Erlen, Ahorn und anderes Gewächs im Unterholz, das identifizieren zu können ich meiner Großmutter verdanke. Sie war extrem belesen, war eine Freundin von Maidi von Liebermann, der Gefährtin von Ludwig Thoma am Tegernseee, und besaß eine umfangreiche Biblothek, darunter eben auch Kosmos-Botanik-Führer, die ich jetzt schmerzlich vermisse, um weitere Kenntnisse der Waldesflora zu erlangen. Sie schenkte mir einmal die Erinnerungen von Carl Schurz in einem Manesse-Bändchen - man würde sich wünschen, dass Donald Trump nicht so illiterat wäre und sie lesen und verstehen könnte.
Margarethe, Grete oder Gretchen, je nach Affection, die im April des Lockdowns ihren 125. Geburtstag gefeiert hätte, wäre nach heutigen feministischen Standards ungebildet: sie verfügte nur über eine Ausbildung in einem Schweizer Mädchenpensionat, heiratete meinen Großvater, von dem ihr, in einem Vorläufer von Parship, ca. 1919 ihre Cousine am Bahnhof in Wesel vorschwärmte: Gretchen, Du musst unbedingt Rudi kennenlernen.
Meine Großmutter konnte zuletzt kaum sehen. Dennoch traf sie sich einmal pro Woche mit anderen Damen zu Tee, Canasta und zur Debatte. Eine der Freundinnen war Nachbarin, zudem Gattin des Direktors der örtlichen Deutschen Bank. Das Ziel beim Canasta ist ja, mit gleichrangigen Karten, insbesondere durch Canasta, möglichst viele Punkte zu erreichen. Gelang das der Teegesellschaft nicht, drehte sich die Konversation um das Leben an sich und Aktien im Besonderen. Wenn die Debatte einer oder mehreren der Damen nicht konvenierte, wurden die Hörgeräte ausgeschaltet. Mit meiner Großmutter, die keinen solchen Apparat nutzen musste, würde ich heute gemeinsam leiden, wenn auch aus anderen Gründen: die Verlautbarungen zum Virus, tränenenreich z.B. anlässlich des Muttertages oder vom Jens würden uns zum Abschalten veranlassen. Diese tolle Großmutter lebt längst nicht mehr. Eigentlich kann sie von Glück reden, weil sie so nicht den unerträglichen Unfug von Boris Palmer hören muss. In seiner Partei wird seine Aussage als „Provokation“ weggelächelt, einem Angehörigen einer anderen Partei wäre von Palmers Partei mit großem Aufschrei ein Rücktritt verlangt und, bei einigem Anstand, auch vollzogen worden.
Morgen ist Muttertag: beim Brötchen-/Semmeln-Holen werde ich in einer mundschutzbewehrten, abstandsbedingten noch viel längeren Männer-Riege auf meine Chance warten, meine Wünsche zu äußern und dabei sinnieren, dass die Abschaffung des Wehrdienstes die Kenntnis über den Unterschied zwischen Reihe=Warteschlange und Linie verwässert hat.
Der Wald aber grünt:
Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen aus,
da bleibe, wer Lust hat, mit Sorgen zuhaus;
wie die Wolken dort wandern am himmlischen Zelt,
so steht auch mir der Sinn in die weite, weite Welt.
Unser bayerischer MP und unsere Kanzlerin, den Kanzleraspiranten aus dem wilden NRW-Westen nicht zu vergessen, haben offensichtlich Emanuel Geibel gelesen, es scheint, dass es bald so weit ist.
Beste Grüße
Peter Schroeder am 9.5.20
Peter Schroeder - 08:03 @ Allgemein, Gesellschaft, Panorama | Kommentar hinzufügen