29.09.2020
Liebe Freunde!
In unserem Haushalt hat sich eingebürgert, dass ich - männlich, siebzig - für den Einkauf von Milch zuständig bin. Das ist eine überschaubare Tätigkeit, wenn auch komplizierter als zu der Zeit, als ich - kindlich, sieben - mit einer Milchkanne zum Milchhaus Rotkäppchen lief und einen Teil der frisch gezapften zwei Liter auf dem Nachhauseweg aus der Kanne trank.
Das Angebot an Milch ist jetzt deutlich umfangreicher. Wir haben uns auf eine Marke geeinigt, die südlich unseres Wohnortes produziert wird und unter anderem in einer glasklaren Flasche mit 1,5% Fettgehalt angeboten wird. Pappe als Behältnis kommt nicht in Frage. Ich bin nicht der einzige, der diese Variante schätzt, denn das Kühlfach ist oft schon morgens geleert. Mit Markentreue bietet sich die 3,5 % Variante oder eben eine braune, etwa 10 Cent teurere Flasche an, die auch 1,5% auf dem Etikett zu stehen hat und einen Hinweis auf eine besonders ökologische Anbauweise, die ich in vollem Wortlaut zitieren möchte:
Diese frische Bio-Alpenmilch von biologisch-dynamisch wirtschaftenden Höfen. De…er -Bauern säen, pflegen und ernten im Einklang mit den Rhythmen der Gestirne - so nutzen sie die Naturkräfte des Kosmos.
Mit Rhythmus ist wahrscheinlich nicht gemeint, dass Saturn wie Phil Collins oder, für Jazz-Fans, Jack DeJohnette, am Rande der Milchstraße am Schlagzeug sitzt und dem Senner den Melk-Takt vorgibt, sondern tatsächlich der Lauf der Sterne und Mondphasen. Als Nordlicht verbindet man mit letzterer nur Ebbe und Flut. Hier in Bayern ist das anders. Wenn ich in meinem früheren Leben Termine für Operationen besprach, kam oft wenig später ein Anruf mit dem Hinweis, dass der Tag nicht passe, weil der Mond nicht richtig stehen würde. Ich habe das zum Anlass genommen, mich ausgiebig zu informieren, es galt ja auch, eine Reputation aufzubauen. Interessantes kam zutage: kurz gesagt, mit der Zunahme katholischer Bevölkerung Richtung Süden unseres wuchs auch der Hang zum Aberglauben. Das wurde durch eine SHELL-Studie bestätigt, wo Christen in 24% der Befragten davon ausgingen, dass Engel und gute Geister, in 22%, dass Sterne und ihre Konstellation unser Leben bestimmen würden. Im Falle einer Herz-Operation hatten dagegen John Ruiz und Karen Matthes im Journal of Personality and Social Psychology festgestellt, dass es für den Operationserfolg unter dem Stichwort relationship satisfaction wichtiger sei, mit wem Patient oder Patientin verheiratet seien. Die Autoren arbeiten in Pittsburgh, PA und dort mag es anders sein als hier in Oberbayern.
Jedenfalls, aus Reputations- und Marketinggründen, hielt ich einen Vortrag vor einem überfüllten Auditorium, in dem sich sonst nur einige Wenige unseren Kenntnissen zu Hüftgelenken, Krampfadern oder Hämorrhoiden zuwandten. Ein Erfolg, der mir sogleich eine Einladung in einen katholischen Pfarrstadl einbrachte, ebenfalls bis auf den letzten Rang gefüllt und wo die Diskussion in die Frage des Pfarrers mündete, ob meine Forschung ergeben hätte, dass Katholiken evtl. schneller gesunden würden als Angehörige anderer Religionen. Unter anderen hatten übrigens italienische Forscher an etwa 5000 Patienten den Einfluss der Mondphase ausgeschlossen, selbst Kinder kommen zur Welt, wenn die Zeit reif ist (Lit. beim Verfasser).
Zurück zur Milch. An sich orientiert sich die Melkzeit grob am Angelusläuten, wie sich in Friederike von Buchners Toni der Hüttenwirt nachlesen lässt. Gleichzeit fällt dem biologisch dynamischen Milchkonsumenten (aber Achtung: Milch macht nach dynamisch sportlicher Anstrengung „lange Spucke“) die VERORDNUNG (EU) 2018/848 DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 30.Mai 2018 ein, die die
ökologisch/biologische Produktion und die Kennzeichnung von ökologisch/biologischen Erzeugnissen sowie zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 834/2007 des Rates regelt. Dort findet sich unter 1.9.1.1 Ernährung, dass ….. b) die Tiere Zugang zu Weideland haben {müssen}, wann immer die Umstände dies gestatten und, dass c) unbeschadet Buchstabe b über ein Jahr alte männliche Rinder Zugang zu Weideland oder Freigelände haben {müssen}.
Zwei Dinge fallen dabei auf: zum einen, dass von Gleichberechtigung in ökologisch/biologischer Produktion noch nicht die Rede ist, wenn Färsen der Zugang zu Weideland vorenthalten wird. Zum anderen und viel bestürzender erscheint mir, dass Europäisches Parlament und Rat im Jahr 2018 Zeit und Raum fanden, sich darüber zu einigen, dass ein mehr als ein Jahr altes Rindvieh Auslauf haben muss, dagegen für das Flüchtlingsproblem oder auch nur die Aufnahme von Kindern aus den Flüchtlingslagern keine Lösung findet.
Öffnet man die beiden Flaschen, liegt oben auf der Milchstraßenmilch trotz gleichen Fettgehaltes ein kleines Rahmhäubchen, ansonsten aber schmeckt sie gleich. Als wir kürzlich von einer Wanderung Bergbutter und -käse mitbrachten, hieß es in der Familie, das würde zu sehr nach Kuh schmecken, was mich daran erinnerte, dass ich vor vielen Jahrzehnten in der Pause zwischen Studium und Beruf einem benachbarten Nebenerwerbsbauern half, seine Weiden zu pflegen, einschließlich händischen Beladens des Miststreuers per Forke. Miststreuen trug zur Entschleunigung bei, denn, wenn der Nebenerwerbsknecht, stilvoll in einen blauen Kesselanzug gekleidet, im vierten Gang über die Wiese treckerte, landete die Bescherung oft im eigenen Rücken. Langsamkeit war angesagt. Kam das Frühjahr und das Milchvieh auf die Weide, schmeckte die Milch nach frischem Gras. Melken habe ich nie gelernt, aber immerhin jetzt, dass Naturverbundenheit auch nicht ganz einfach ist, wobei…der Verlag, in dem Toni der Hüttenwirt erscheint, verspricht in seinem Teaser: Diese Serie „Toni der Hüttenwirt“ stillt die Sehnsucht des modernen Stadtbewohners nach einer Welt voller Liebe und Gefühle, nach Heimat und natürlichem Leben in einer verzaubernden Gebirgswelt. Geht doch und nicht mal bewegen muss man sich.
Beste Grüße
Euer/Ihr
Peter (Schroeder)
Peter Schroeder - 12:19 @ Allgemein, Gesellschaft | Kommentar hinzufügen
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